Zeitzeugengespräche 2017


260 Jahre Lebenserfahrung

Am 10.11.17 hatten die Schüler der Q3 die Möglichkeit, an einem Zeitzeugengespräch über die NS-Zeit teilzunehmen. Durch die Erzählungen der Referenten wurde den Schülern und Schülerinnen ein authentischer, tieferer Einblick in das Leben während der NS-Zeit geboten. Aufgeteilt in drei Gruppen hörten die Schüler und Schülerinnen Berichte aus den bewegenden Leben von Henriette Kretz, Inge Geiler und Ignacy Golik.

Henriette Kretz (83) wurde in einer jüdischen Familie in der heutigen Ukraine geboren. Sie führte eine glückliche und unbeschwerte Kindheit in einem kleinen Ort in Polen, wo ihr Vater als Arzt tätig war und ihre Mutter als Anwältin arbeitete. Die Familie floh nach dem Überfall auf Polen nach Lemberg (heute Lviv), wo ihr Vater Direktor einer Tuberkulose-Heilstätte für Kinder war. Eines Tages kamen die Deutschen, die sie in ein jüdisches Ghetto umsiedelten. Der Vater verlor seine Stelle und durfte nur Juden behandeln und die Familie musste sich mit einer Armbinde mit dem Davidstern als Juden kennzeichnen.

Als die Soldaten sie eines Tages zum Abmarschieren befohlen, bat ihr Vater einen Soldaten um Hilfe, der die Familie an einem Fluss hinter Büschen versteckte und vor einer Massenerschießung rettete.

Daraufhin versteckten ihre Eltern Henriette (etwa 8 Jahre alt) bei einer polnischen Witwe. Jedoch wurde sie entdeckt und in ein Gefängnis gebracht. Durch Bestechung kam die Familie frei und versteckte sich in dem dunklen, kalten Keller eines ukrainischen Arztes. Doch auch dort wurde die Familie entdeckt und Henriettes Eltern wurden vor ihren Augen erschossen. Sie rannte weg und kam in einem Waisenhaus unter, wo sie die nächsten drei Jahre aufwuchs. Nach dem Krieg kam sie zu ihrem Onkel nach Belgien. Seit ihrem elften Lebensjahr wohnt Frau Kretz in Antwerpen, wo sie Kunstgeschichte studierte. Zwischendurch unterrichtete sie Französisch an einer Schule in Israel.

Ignacy Golik (95) reiste mit seiner Frau aus Warschau an, um seine Geschichte zu erzählen. Er überlebte unglaubliche vier Jahre Gefangenschaft in Auschwitz. Aufgrund dieser langen Gefangenschaft war er auch Zeuge bei den Frankfurter Auschwitz-Prozessen. 1941 wurde er von der Gestapo in Warschau festgenommen, da er Teil des polnischen Wiederstands war. Von dort wurde er direkt nach Auschwitz deportiert. Er beschrieb nicht nur eindrucksvoll die grauenvolle, brutale Seite des KZ-Lebens, sondern auch Akte der Menschlichkeit von Wächtern. Er selbst schaffte es seiner Darstellung nach, durch Schlauheit und Gewieftheit, Schlägen und Mangelernährung im KZ zum großen Teil zu entgehen und sich eine bessere Stellung zu erarbeiten. Bereits durch seine Deutschkenntnisse hatte er gute Voraussetzungen. Er nannte sich selbst ein Schlitzohr. Vom ersten Tag im KZ an wollte er alle seine Kräfte darauf konzentrieren zu überleben, "nicht so ein Tölpel wie die anderen" zu sein. Inwieweit er dies unter Umständen nur zu Lasten anderer konnte, blieb weitgehend unklar, jedoch ist bekannt, dass er in Auschwitz Kapo (Funktionshäftling) war. Für ihn waren das Überleben im KZ und der Umgang mit seinen Erlebnissen danach nur dadurch möglich, dass er sich auf sich selbst fokussierte und versuchte, die Realität auszublenden. "Ich war jung", sagte Ignacy Golik nachdenklich. In der Tat war er bei seiner Verhaftung 19 - nur wenig älter als wir.

„Wie ein Schatten sind unsere Tage“, so heißt das Werk der Autorin Inge Geiler (82) aus Frankfurt. Es handelt von einer Familie, die in der NS-Zeit aufgrund ihrer jüdischen Konfession verfolgt und vernichtet wurde. Man könnte fast sagen, das Schicksal brachte Frau Geiler mit der Geschichte der Familie Grünbaum zusammen. Bei der Renovierung ihrer Wohnung im Frankfurter Westend fand sie mehr als 40 Briefe, Ansichtskarten und Dokumente von der Familie. Erst lange Jahre nach dem Fund war sie bereit, sich mit den Karten auseinander zu setzen. Sie stellte intensive Recherchen an und investierte über 10.000 Euro, um die Geschichte der jüdischen Familie niederzuschreiben.

Die schrecklichen Schicksale lassen uns Schüler bewusstwerden, was für ein Glück wir haben, in einer friedlichen Gesellschaft aufzuwachsen.

Den drei Zeitzeugen liegt viel daran, dass sich ihre Erfahrungen nicht wiederholen. So ermahnten sie uns, stets wachsam zu sein und unsere Stimme bei Unrecht zu erheben. Wir persönlich sind sehr dankbar, dass wir als eine der letzten Generationen die Chance erhalten haben, von Zeitzeugen die NS-Zeit geschildert zu bekommen — nicht nur aus Schulbüchern.

Organisiert wurde das Zeitzeugengespräch von Geschichtslehrer Roland Struwe in Zusammenarbeit mit dem Bistum Limburg und der Bildungsstätte Anne Frank in Frankfurt. 


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